Der Blinde [R. A.]
Welche Hand trieb dich aus dem Bewohnten
Wo du die Zeit nach Sternen hast gezählt?
Kein Senkblei mißt die Schwärze der Entthronten
Wo deine kleine Nacht sekundenlang gefehlt.
Wo bist du Hand, die dich vor Morgenröten
Durch Türen stieß, die nur ein Engel weiß –
Schließ dich mein Wort, wie darfst du zweimal töten
O Wort, geboren aus dem Menschenkreis.
Die Hellsichtige [G. C.]
Du sahst die Gedanken kreisend gehn
Wie Bilder um ein Haupt.
Der Luft hast du geglaubt
Darin die Sterne auferstehn.
Und hattest nicht den Blindenstar
Der altgewordnen Zeit.
Wo für uns noch der Abend war
Sahst du schon Ewigkeit.
Der Hausierer [G. F.]
Du hattest einen weiten Weg zu gehn
Von Nadeln und Zwirn bis zu den Engeln –
Der Tod kam deinen Kram besehn,
An einer Sichel sang sein Dengeln,
Aufgingen Scheren wie im Windeswehn
Der Mond lag bleichend auf dem Linnen.
Sand leerte sich aus einem Kinderschuh –
Du aber standst im schrecklichen Beginnen
Und nahmst an Angst wie an Gewichten zu.
Doch deine Füße, längst gewohnt das Wandern
Wußten nun den Weg, den andern.
Deine Augen, die die Elle abgemessen
Tauten Spiegel aus dem längst Vergessen.
Deine Hände, die die Münze nahmen
Starben wie zwei Beter mit dem Amen.
Die Ertrunkene [A. N.]
Immer suchtest du die Perle, am Tage deiner Geburt verloren.
Das Beseßne suchtest du, Musik der Nacht in den Ohren.
Meerumspülte Seele, Taucherin du, bis zum Grunde.
Fische, die Engel der Tiefe, leuchten im Licht deiner Wunde.
Die Schwachsinnige [B. H.]
Du stiegst auf einen Berg aus Sand
Hilfloses Wandern zu Ihm!
Und glittest hinab; dein Zeichen verschwand.
Für dich stritten die Cherubim.
Schlichtes Herz [B. J.]
Deine Landstraße schloß sich wie ein Ring.
Jemand gab dir einen Wink;
Und du begannst zu eilen
Als müßtest du eine Wunde heilen.
Keine Umwege; die waren
Für die, die eine Gnade bewahren.
In den kleinen Bögen wie Wiegen
Hattest du Geschwister, dann Kinder liegen.
In der Mitte aber stand der Herd.
Und du liebtest, wie man Gott verehrt.
Die Mutter (Meinen toten Brüdern und Schwestern)
Hier gingen alle Worte schlafen.
Alle Leiden fanden hier ihren Hafen.
Die Tränen wußten kein neues Meer.
Hier ruht kein Staub; alles ist Wiederkehr.
Der Spinozaforscher [H. H.]
Du last und hieltest eine Muschel in der Hand.
Der Abend kam mit zarter Abschiedsrose.
Dein Zimmer wurde mit der Ewigkeit bekannt
Und die Musik begann in einer alten Dose.
Der Leuchter brannte in dem Abendschein;
Du branntest von der fernen Segnung.
Die Eiche seufzte aus dem Ahnenschrein
Und das Vergangne feierte Begegnung.
Die Abenteurerin [A. N.]
Wohl spieltest du mit nichts als Wasserbällen
Die lautlos an der Luft zerschellen.
Aber das siebenfarbige Licht
Gab jeder sein Gesicht.
Einen Herzschlag nur
Wie Engelflur.
Doch dein letztes Abenteuer –
Still; eine Seele ging aus dem Feuer.
Die alles Vergessende [A. R.]
Aber im Alter ist alles ein großes Verschwimmen.
Die kleinen Dinge fliegen fort wie die Immen.
Alle Worte vergaßt du und auch den Gegenstand;
Und reichtest deinem Feind über Rosen und Nesseln die Hand.
Der Steinsammler [E. C.]
Du hast der Erdenzeiten Stille
Gesammelt in den Steinen.
Wieviel Morgenröten im Berylle
Wieviel Fernen im Kristalle scheinen
Mit der Biene, die auf einer Wicke
Abertausendjährgen Honig braute,
Doch Opal mit seinem Seherblicke
Längst dein Sterben dir schon anvertraute.
Du, aus Menschennächten losgebrochen
Sprichst die Lichtersprache aus den Rissen –
Die man spricht, wenn das Gehäus durchstochen
Und von der wir nur die Funken wissen.
Der Narr [H. F.]
Fast hättest du Sterne in deinen Kranz gewunden
Aber der Erdrauch ließ sich leichter runden.
Die Kröte mit dem Mondenstein
Sah zur Mitternacht in dein Fenster hinein.
Da hättest du die Musik der Welten gehört –
Aber du schliefst weiter, nur wenig gestört.
Auf der Dämmerungsbrücke beim Hahnenschrei
Hattest du vom Fischfang der Nacht keine Beute dabei.
Wahrsager, der Träume und Karten mischt
Und dem ein Wind sein Licht verlischt.
Die Tänzerin [D. H.]
Deine Füße wußten wenig von der Erde,
Sie wanderten auf einer Sarabande
Bis zum Rande –
Denn Sehnsucht war deine Gebärde.
Wo du schliefst, da schlief ein Schmetterling
Der Verwandlung sichtbarstes Zeichen,
Wie bald solltest du ihn erreichen –
Raupe und Puppe und schon ein Ding
In Gottes Hand.
Licht wird aus Sand.
Der junge Prediger [H. M.]
Du hast schon in Särgen geschlafen
Als die Welt dir bot keinen anderen Hafen.
Wo ruhst du nun?
Pforten werden sich auftun!
Andres Grün wird deine Augen weiden
Bekannt aus Kinderträumen, Sehnsucht, Leiden.
Andrer Duft wird dort dich segnen
Wie Erinn’rung dir begegnen.
Die Chassidim, die ihren Gott in Nacht entzündet
Sie haben deine Heimat längst verkündet.
Es wurde spät; und die Zeit
Ist Dunkel von der Ewigkeit.
Die Liebenden
Wo du wohl ruhst, der meine Seele rief?
Wo du wohl ruhst, um die ich Welt verschlief?
O Morgenfrage, die im Paradies begann;
Und zu der sel’gen Antwort fragt hinan.
Der Pilger [L. H.]
Du kamst einmal mit der Sonne vom Morgen.
Der Abend konnte dir nur seinen Schatten borgen.
In deinen Augen leuchtete Feuersäule und Wüstensand,
Und dahinter im Heimweh das ewig gelobte Land.
Wer sandte dich aus, dich aus den biblischen Zeiten
Um den Rückweg mit Nichts als Sehnsucht zu bereiten.
Aus Träumen und Wolken ist Sterben gemacht.
Aber dahinter steht Zion, hinter dem Abend und hinter der Nacht.
Die wahnsinnige Mutter sang [M. L.]
Meine rechte Hand faltet sich zum Krug –
Mit meiner Linken greife ich etwas wie Vogelflug –
Ist es ein Haar
Das auf dem Haupte eines Kindes war?
Meine rechte Hand faltet sich zum Krug,
Mit meiner Linken greife ich etwas wie Vogelflug –
Halte ich ein brennendes Licht
Das aus zwei Augen spricht?
Meine rechte Hand faltet sich zum Krug –
Mit meiner Linken greife ich etwas wie Vogelflug –
Zittert es nicht als ob Wasser fließt?
Meine Hand ein klopfendes Herz umschließt?
Der Ruhelose [K. F.]
Alle Landstraßen wurden enger und enger.
Wer war dein Bedränger?
Du kamst nie zum Ziel!
Wie im Ziehharmonikaspiel
Wurden sie wieder auseinandergerissen –
Denn auch im Auge ist kein Wissen.
In die blaue Ferne gehn
Berge und Sterne und Apfelbaumalleen.
Windmühlen schlagen wie Stundenuhren
Die Zeit; bis sie verlöscht die Spuren.
Die Blutende [H. H.]
Der Hahn, er kräht; dies ist die Stunde –
Der Mensch, er blutet aus der Wunde.
Und hört, das Ohr noch hier am Sande
Ein Flüstern von dem andern Lande.
So hast du Großes dir verborgen
Und wußtest vor dem Tod, vom »Morgen«.
Der vielleicht nicht Gute [J. L.]
Wer kann das hinieden unterscheiden.
Böse sein ist das tiefste Leiden.
Kein Fenster hinaus in die Ewigkeit
Doch oben wiegt ein Engel die Zeit.
Mit der Sternenwaage im ewigen Blau;
Und eine Träne, macht es genau.
Das Kind
Vielleicht wäre in dir zu Ende gewesen,
»Der Augenblick« den Er uns verlassen?
An einem Stern kann eine Nacht genesen;
Und ein Geheimnis heilt das Hassen.
Nelly Sachs, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden - Band I + II: Gedichte © Suhrkamp Verlag Berlin 2010